Zinnpest im Mittelalter
Leute,
Leser werden sich vielleicht erinnern, dass ich mich schon seit einiger Zeit für die Zinnpest interessiere. Zinnpest kann auftreten, wenn nahezu reines Zinn über längere Zeiträume kalten Temperaturen (< 13,2 oC) ausgesetzt wird. Am Ende dieses Beitrags finden Sie eine kurze Zusammenfassung des Zinnpestphänomens. Schauen Sie sich dieses interessante Zeitraffervideo über die Bildung von Zinnpest über einen Zeitraum von wahrscheinlich vielen Monaten an.
Der Grund für diesen Beitrag ist die Anfrage einer polnischen Mittelalter-Wissenschaftlerin, Beata Lipińska, die die Zinnpest und ihre Auswirkungen auf die mittelalterliche Kultur, vor allem an Kirchenorgelpfeifen, untersucht. Sie hat mich um Unterstützung bei der Suche nach Arbeiten gebeten, in denen die Zinnpest aus historischer Sicht behandelt wird. Wenn Sie Referenzen kennen, die Beata helfen könnten, wenden Sie sich bitte direkt an sie unter beata.e.lipinska@gmail.com.
Abbildung 1. Zinnpest bildet sich in Sn 0,05 Cu-Legierung, von Plumbridge. Siehe die unten aufgeführte Arbeit.
WAS IST ZINNPEST?Zinn ist ein allotropes Metall, d. h. es weist unter verschiedenen Temperatur- und Druckbedingungen unterschiedliche Kristallstrukturen auf. Zinn hat zwei allotrope Formen. „Normales“ oder weißes β-Zinn hat eine stabile, tetragonale Kristallstruktur mit einer Dichte von 7,31 g/cm3. Bei Abkühlen unter 13,2 oC verwandelt sich β-Zinn langsam in α-Zinn. „Graues“ oder α-Zinn hat eine kubische Struktur und eine Dichte von nur 5,77 g/cm3. α-Zinn ist außerdem ein Halbleiter und kein Metall. Die Ausdehnung des Zinns von weiß nach grau führt dazu, dass die meisten Zinngegenstände zerbröckeln.
Die Makroumwandlung von weißem in graues Zinn dauert etwa 18 Monate. Das Foto, das wahrscheinlich die berühmteste moderne Aufnahme der Zinnpest ist, zeigt das Phänomen recht deutlich.
Dieses Foto trägt den Titel „The Formation of Beta-Tin into Alpha-Tin in Sn-0.5Cu at T <10oC“ und ist in der Arbeit von Y. Karlya, C. Gagg und W.J. Plumbridge „Tin pest in lead-free solders“ in Soldering and Surface Mount Technology, 13/1 [2000] 39-40 abgebildet.
Dieses Phänomen ist seit Jahrhunderten bekannt und es ranken sich viele interessante, wahrscheinlich zweifelhafte Geschichten um die Zinnpest. Die vielleicht berühmteste Geschichte ist die der Blechknöpfe an den Mänteln der Soldaten Napoleons, die sich auf dem Rückzug aus Moskau infolge der Zinnpest zersetzten. Eine andere, im Mittelalter verbreitete Anekdote war, dass Satan die Schuld am Verfall der Zinnorgelpfeifen in nordeuropäischen Kirchen trug, da die Zinnpest oft so aussieht, als sei das Zinn „krank“.
Ursprünglich wurde die Zinnpest auch „Zinnkrankheit“ genannt. Ich glaube, dass die englische Bezeichnung „Tin Pest“ aus der ungenauen Übersetzung der deutschen Bezeichnung „Pest“ stammt und nichts mit Schädlingen (im Englischen heißt Pest eigentlich „Schädling“) zu tun hat.
Den meisten Menschen mit geringen Werkstoffkenntnissen erscheint die Umwandlung von β- in α-Zinn bei kälteren Temperaturen nicht logisch. Normalerweise schrumpfen Materialien bei kälteren Temperaturen und dehnen sich nicht aus. Obwohl dieser Vorgang anscheinend noch nicht vollständig verstanden ist, ist er wahrscheinlich darin begründet, dass das graue α-Zinn eine niedrigere Entropie als das weiße β-Zinn aufweist. Mit der Abführung von Wärme bei den niedrigeren Temperaturen ist ein niedrigerer Entropiezustand wahrscheinlich stabiler.
Da die Umwandlung in graues Zinn eine Ausdehnung erfordert, nukleiert die Zinnpest in der Regel an einer Kante, Ecke oder Oberfläche. Die Keimbildung kann Dutzende Monate dauern. Hat sie jedoch einmal begonnen, kann die Umwandlung schnell erfolgen und innerhalb von Monaten zu strukturellem Versagen führen.
Obwohl sich Zinnpest bei <13,2 oC bilden kann, gehen die meisten Forscher davon aus, dass die Kinetik bei dieser Temperatur sehr gehemmt ist. In der Literatur scheint es eine allgemeine Übereinstimmung darüber zu geben, dass die maximale Bildungsgeschwindigkeit von Zinnpest bei -30 bis -40 oC liegt.
Danke,
Dr. Ron
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